Der Blog ist fertig

Wir haben einen Blog geschrieben, wir das waren anja,  carmen, claudia b., claudia s., konstanze, marion, ricarda und ich. Und ja, wir haben ihn fertig geschrieben, weil er zu Ende geschrieben wurde (was bei einem Blog ja scheinbar selten passiert), weil wir sein Ende herbeigeschrieben haben, bis heute. Wir publizierten etwa 300 kurze, zeitlich unterbrochene, flüchtige Texte im Netz, in 17 Kategorien (Ricarda hat das gezählt) und versuchten selbstverständlich die Möglichkeiten des Blogs zu nutzen, indem wir über die reine Schriftlichkeit hinausgingen. Denn dieser Blog enthielt neben unseren Blogtexten auch Fotos, Videos und Audios, enthielt manchmal unsere tippenden Hände, unsere Stimmen, unseren Blick. Unsere Texte wurden hier in diesem Blog kopier- und teilbar und sind dadurch netztauglich geworden.

Manchmal haben wir gemeinsam schreibend in die „Nacht“ geschaut oder zusammen „Musik“ gehört. Sogar eine weitere Bloggerin haben wir erfunden (aber eigentlich war es Sybil, die sie erfand) und für sie eine „Runde“ geschrieben, eine, an der sich alle Bloggerinnen beteiligt haben. Wir schrieben über sieben Jahre hinweg, Woche für Woche (wenn wir es nicht aus Versehen vergessen hatten) und schrieben doch für den Tag, für den Augenblick. Erst wenn wir zurückschauen, haben wir die Jahre, das große Ganze im Blick.

Für die Rückschau haben wir unsere Texte neu gemischt, manche vergessen und manche verworfen. Aber selbst die vergessenen und verworfenen werden eine Spur hinterlassen im Netz, eine Spur unseres Netzspaziergangs, den wir, die bloggenden alphabettínen, gemeinsam unternommen haben (selbst wenn manche schon vor dieser Zielgeraden hier abgebogen sind). Schauen wir zurück, ist der Blog zu Ende geschrieben worden, fast wie ein Buch. Aber dennoch lesen wir nicht nur den Blog vom Ende bis zum Anfang, von vorne nach hinten, sondern können ein Stück weit beobachten, wie er entstand, wie wir aufeinander geantwortet, wie wir Dinge ausprobiert haben, sie wieder fallen ließen, anderes beibehielten. Wir sind auch sieben Jahre lang mutig gewesen beim Schreiben, haben manchmal nicht ganz fertig geschrieben, nicht jeden Tonfall geprüft und es trotzdem veröffentlicht.

Nach und nach stellen wir nun diese Text-, Bild- und Klangcollage, die wir gemeinsam erstellt haben, zurück ins Netz, weil sie dort ja auch hingehört, nur an eine andere Stelle. Wir lassen diesen neuen Blogtext mit sich selbst sprechen, stellen ihn hinein in andere (Jahres-)Zeiten, in eine andere Abfolge, ein anderes Design. Ein Stück weit schreibt sich der Text dadurch neu.

Wir haben also viele unserer Blogposts umgezogen in ein anderes Zimmer, eines, das stetiger ist als dieser Blog hier, der eher einem Wohnwagen gleicht als einem richtigen Zimmer. Kommt bitte und besucht uns auch dort. Denn nicht nur wir können nun unsere eigene, fertige Geschichte, die auch ein Teil der alphabettínen-Geschichte ist, unseren eigenen Blog betreten, sondern auch ihr mit uns. Wir danken euch dafür, dass Ihr Anteil genommen habt, dass Ihr uns manchmal sogar in unsere Blog-Geschichte hineingeschrieben habt, hier in den Kommentaren, auf Facebook oder per Mail, wie auch immer. Hier an dieser Stelle ist unser Blog eine fragile Buchstabenwolke und wird als solche verschwinden, wird sesshaft werden, nach und nach, im Zuhause der alphabettínen-Homepage. Auch das, was ich jetzt schreibe, wird hier schon bald nicht mehr stehen. Wir verabschieden uns. Ich ziehe meinen Hut.


Unsere ausgewählten Blogtexte erscheinen nun nach und nach auf der Homepage der alphabettínen. Schaut dort gerne immer mal wieder vorbei!

Nachtschattennotizen im Tagwald

Wenn LOLA dann GERTI

…well, I’m not dumb but I can’t understand
why she walked like a woman but talked like a man
oh my Lola
La-la-la-la Lola
La-la-la-la Lola

well, we drank champagne and danced all night
under electric candlelight
she picked me up and sat me on her knee
and said „dear boy, won’t you come home with me?“La-la-la-la Lola
La-la-la-la Lola…


Wenn ich LOLA von den KINKS höre, denke ich an den MOHREN.

Wenn ich an den MOHREN denke, sehe ich GERTI vor mir.

MOHREN, der: legendäre Kneipe meines Heimatstädtchens (R.I.P.)
Hier wuchs ich step by step und noch leicht jugendlich verschämt ins Nachtleben hinein, das überwiegend bevölkert wurde von biertrinkenden Kerlen in Lederjacken, die grünen Ascot rauchten, Selbstgedrehte, ganz Harte bevorzugten Schwarzen Krauser – alles, was irgendwie links war, alternativ, politisch aktiv, wohnte nachts im bluesverhangenen Qualm des MOHREN*. 

GERTI, die: Inkarnation einer Wirtin, in ihren 50ern damals, klein, sie ragte kaum über ihr enges Thekenreich hinaus, aber mit Volumen in jeder Hinsicht. 

Die geballte Autorität der Chefin lag in ihrem Blick, mit dem sie uns herrisch Redeerlaubnis zur Bierbestellung erteilte, kurz auffordernd nickte; selten barsch ein „was willsch“, mehr Befehl als Frage; optisch fesselnd war sie ohnehin: wasserstoffperoxidblondes langes Haar wippte auf ihrem, mit Verlaub: Atombusen; schreckliches Wort, obendrein seltsam, sind Atome nicht etwas sehr Winziges – ich vermute aber, das Wort wurde für sie erfunden, auch wenn Gertis Busen eigentlich in gar kein Wort, auch in keinen Blick hineinpasste, ich übertreibe nicht.

Bisch du überhaupt scho 16 – ich schüchtern: na klar, das war für Jahre unsere einzige Unterhaltung, vielleicht noch GERTI: an schnaps kansch hao, als ich dort meinen 18. geburtstag feierte, ICH: machsch mir n deckl bitte, strichlisten auf Bierfilzln führte Gerti so lange, bis kein Platz mehr für weitere Striche war.

Die MOHREN-Luft war immer geschwängert mit Rauch, zudem mit Musik aus der Jukebox, die Münzen drückte uns Gerti in die Hand. Jimi und Janis hoch und runter, Hotel Californiaund la-la-la-la-LOLA, yeah, Lola, die erste Transe meiner Jugend, den Text fand ich stark**, und das Klackern der Billardkugeln aus dem Hinterzimmer drang wie zur Beruhigung durch alle Stimmlagen der lautstark geführten Kneipendiskurse. 

Doch nichts erreichte in seiner akustischen Einmaligkeit Gertis Lachen, unvermittelt und in höchsten Höhen einsetzend, wie übersteuert, schrill, kaskadenartig nach unten stürzend, um harmonisch glucksend zu verebben in ihrem festen Kugelbauch. 

Obendrein ihre derben Sprüche. Wollte sie die letzten verbliebenen männlichen Thekengäste loswerden, kam gerne dieser: Gand hoim zu eire wüaschte Weiber!– Kaskadenlachen. Niemand durfte sowas sagen, damals schon nicht. Außer Gerti.

Es gibt keine Tonaufnahme von Gertis Lachen. Aber es gibt LOLA. Ich liebe diesen Song.

*Um den Namen dieser Wirtschaft, die zur Zeit meiner Großeltern (die dort damals ebenfalls verkehrten, tagsüber allerdings) eine gutbürgerliche Gaststätte war, scherte sich kein Mensch; 2001 wurde das Gebäude wegen Baufälligkeit abgerissen und die MOHREN-Ära endete, Gerti wurde arbeits- und heimatlos, sie wanderte aus. Und wir ehemaligen MOHREN-Kinder irren noch heute durch Memmingens nächtliche Gassen, keinen Ersatzhafen gefunden bislang, also: obdachlos, ziellos schlendernd auf alten Pfaden, beim Anblick des neu gebauten schmucken Geschäftshauses an MOHRENs Statt LOLA aus der Jukebox im Ohr, im Hintergrund Gertis Lachen. 

** LOLA von The Kinks

I met her in a club down in old Soho
Where you drink champagne and it tastes just like coca cola
C-O-L-A, Cola

She walked up to me and she asked me to dance
I asked her her name and in a dark brown voice she said Lola
L-O-L-A, Lola
La-la-la-la Lola

Well, I’m not the world’s most physical guy
But when she squeezed me tight she nearly broke my spine
Oh my Lola
La-la-la-la Lola

Well, I’m not dumb but I can’t understand
Why she walked like a woman but talked like a man
Oh my Lola
La-la-la-la Lola
La-la-la-la Lola

Well, we drank champagne and danced all night
Under electric candlelight
She picked me up and sat me on her knee
And said „Dear boy, won’t you come home with me?“

Well, I’m not the world’s most passionate guy
But when I looked in her eyes, well I almost…

Nachtschattennotizen im Tagwald

mal raus ins grüne / zeitzeichen raten

ein ewig geradezu ewig
langweiliges stück des spazierweges
schnurstracks am bahndamm entlang
dreierlei schallschutzgrün immerhin fiel dem 
schallschutzwandhersteller ein

blick sucht nach halt und DA! fällt auf  
den im deutschen schilderwald radikal neuen
hinweis für heimliche eidechsen unter uns 
– es gibt einen ausweg – down please! 
ihr bodennahen geschöpfe
ihr findet ebenerdig euer entkommen

warum hingegen zur rettung der grünen männchen
das European Centre for Disease Prevention and Control
vom jugendlichen sprayer vorgeschlagen wurde 
– the answer is blowing in the wind

oder hat der jugendliche sprayer eine E/A-schwäche 
(und obendrein den blitz zwischen C und D für 
vernachlässigenswert erachtet)

blick sucht nun halt im www // wird fündig:
Eisclub Die Coyoten Memmingen Indians e.V.
(geht noch einschüchternder – vormals:
Eliteclub Dynamo Chiemsee)

wie naheliegend / enttäuschend beinahe 
– der örtliche eishockeyverein
no news from outer space

Was mir gefällt in diesen Tagen …

dass das zarte Frühlingsgrün – Verdienst der langen Kälte – länger leuchtet als in Vorjahren

dass ich den Regen willkommen heißen kann

dass die Sonne immer wieder durch Wolkenberge dringt und die Luft erwärmt

dass der zum Leben so wichtige Sauerstoff jetzt aus Europa nach Indien gelangt

dass die kräftige Rose im Garten nicht wild um sich sticht, weil die Nachbarin, ihres Schwächelns wegen, den nährenden Kompost zuerst erhält

dass Küsse, wenn auch weniger, so doch beseelter geworden sind

dass viele Menschen mit mir gemeinsam nach dem suchen, was uns gefällt

dass viele Menschen besonnen und beharrlich sagen, was ihnen nicht gefällt

dass Freund*innen, die das anders sehen, trotzdem Freund*innen bleiben

dass wir immer noch und immer wieder einander helfen

dass es den Like Button gibt, auch wenn er meine Faulheit unterstützt (ich könnte ja stattdessen einen Kommentar schreiben)

dass es diesen Blog so lange schon gibt und auch in Zukunft noch geben wird

Nachtschattennotizen im Tagwald

mit den augen eines schwamms. versuch einer selbstvergewisserung

manche zeiten erfordern es, andere fragen zu stellen als bislang, den standpunkt zu wechseln oder dem blick aus dem fenster das recht einzuräumen, die geschicke des tages einmal einzig und allein in seine bahnen zu lenken, die bahnen des augenblicks vom ersten augenaufschlag an, heraus aus dem traumreich, hinein in eine direkt vor der eigenen nase liegende wirklichkeit.

so könnte ich zum beispiel fragen:

hätten Sie nicht auch gerne einmal die wahl zwischen eisbeinen, schweinshaxen und einem zünftigen schwammdrüber?

die unzähligen schweinshaxen nämlich, die ich letzte nacht, am schweinshaxenfließband stehend, verspeisen musste, mit dem pistolenlauf des großküchenkochs an meiner schläfe, nahmen leise knisternd und britzelnd, während ich ungläubig die augen wiederholt zukniff, blinzelte, aufriss, zukniff, nahmen also leise knispelnd und bei zunehmender wachwerdung immer deutlicher die form von kristallklaren kakerlakenbeinen an, überdimensioniert zitterten sie durch mein gesichtsfeld, während mir noch das fett aus den mundwinkeln troff. 

mit einer barschen handbewegung wischte ich mir die traumgespinste aus dem gesicht, nicht willens, auch nur einen einzigen gedanken an die deutung des schlafend erlebten zu verschwenden.

blieben: die eisbeine über mir. 

wäre das bis hierher geschilderte nun eine geschichte, die ich mir ausgedacht hätte, hätte ich mich sauber in eine textecke verrannt, aus der es so leicht kein entkommen mehr gäbe: was weiter anfangen mit diesem bizarren insektengebein knapp über meinem kopf, an einem beliebigen mittwochmorgen.

ich nähme, nach langem starren auf den verknurpselten text auf meinem monitor, die löschfunktion meines bildbearbeitungsprogramms zu hilfe, hielte die linke maustaste gedrückt, ein kleiner schwamm statt des blinkenden cursors erscheint, und wischte in zackigen bewegungen das foto auf meinem monitor weg wie ein missratenes tafelbild.

sehr befriedigende vorstellung, die deutungshoheit habe immer noch ich.

und so warte ich als real existierendes ich auf die ersten sonnenstrahlen, die langsam über mein dachfenster lecken. man wird ansonsten ja noch ganz irre in diesen zeiten.